Laudatio von Swantje Karich, Redakteurin der FAZ,
zur Vergabe des Kritikerpreises an Nicola Kuhn, Tagesspiegel Berlin
am 18.12.2013 in Berin

Drinnen und Draußen statt Oben und Unten:
Woher kommt und wohin gehört die starke Kritik der Schwächen von Kunst?

Manche Leute glauben, ein Urteil über ein Kunstwerk sei umso wahrer, je mehr die Person, die dieses Urteil abgibt, sich dafür auch persönlich in die Bresche wirft – auf Podiumsdiskussionen, in Streitgesprächen, im Tumult unter Studierenden nach dem Seminar oder bei der Museumsbesichtigung. Kritik erfährt ihre Beglaubigung für ein Massenpublikum, wo es sie überhaupt noch erreicht, heute häufig durch den körperlichen Mut, ein Lob oder ein vernichtendes Urteil auch direkt mit dem eigenen Gesicht und der eigenen Stimme zu vertreten – der Ruhm des 2013 verstorbenen Marcel Reich-Ranicki steht beispielhaft für dieses Phänomen.
Es gibt viele Gründe dafür. Zu den guten gehört, dass in Zeiten, in denen die mehr oder weniger anonyme Kundenrezension im Online-Versandhandel für Kulturgut oder der mal enthusiastische, mal aufgebrachte Forumsbeitrag zum kritischen Artikel den Lärmpegel der meistens mehr schlecht als recht begründeten Meinungen insgesamt erhöht haben, die Bedeutung der Frage „Wer spricht?“ eher zu- als abnimmt: Der anonyme Chor der öffentlichen Erregung nimmt selbst den heftigsten Urteilen die Spitzen, weil die schiere Masse der Stimmen, über die man nichts weiß, als dass sie sich eben äußern, diese Urteile der Beliebigkeit preisgibt, die ihr Tod ist.

Aber die Neigung, Kritik von einem Gesicht, einer Stimme, einer Präsenz signieren zu lassen, hat auch ihre schlechten Ursachen – die Welt der Intellektuellen versucht, wo dieses Prinzip durchgesetzt wird, immer auch ein bisschen, zur Jagd nach Grenzerfahrungen und Sensations-Fertigerlebnissen aufzuschließen, die sich mit Extremsport, Realitiy-TV, Castingshows, Nachmittags-Talkshow-Gemetzeln „aus dem wirklichen Leben“ und Youtube-Hits die Zeit vertreibt.

Angefangen hat das Ganze mit den modernen Medien, die nicht nur Massenmedien sind – man wird die Kundschaft von „Arte“, den öffentlich-rechtlichen Spartenkanälen für Kultur, „Lettre International“ oder Hochglanz-Kunstzeitschriften ja nicht eben als „Masse“ anreden dürfen, aber modern sind diese Sender und Printerzeugnisse trotzdem. Das moderne an ihnen ist die Verbindung von Unmittelbarkeitsillusion und hoher Reichweite – die Ausstellung war zwar in New York, aber ich kann mir die Fotos beim Blättern im Zeitschriftenladen am Frankfurter Hauptbahnhof anschauen, als wäre ich dort (gewesen), und fürs Fernsehen oder das Radiofeature gilt dieser Eindruck des „mittendrin statt nur informiert“ erst recht.

Reichweite erzielt man einerseits durch Apparate (Studios, Kameras, Druckereien, Sortiermaschinen beim Vertrieb), Unmittelbarkeitsillusion erzielt man, indem man Regeln außer Kraft setzt, die Distanz schaffen – das Interview im Plauderton wirkt einladender und anwesender als das Referat in indirekter Rede, bei dem es dauernd heißt, „der Künstler hat gesagt, er habe dies und das getan, es sei so und so geworden, er habe sich dies und das dabei gedacht etc.“ .
Öffentliche Auseinandersetzungen über Kunst, etwa als Podiumsdebatte oder als „Round Table“ in einem Magazin, erreichen die Unmittelbarkeitsillusion, die sie ihrem Publikum verkaufen müssen, damit dieses eine Bindung an solche Foren, Sender, Printerzeugnisse aufbaut und pflegt, indem sie das Gespräch immer weniger als Gerichtsprozess und immer mehr als Boxkampf inszenieren.

Beim Gerichtsprozess tragen alle der Reihe nach ihre Plädoyers vor, ihre Beweise, ihre Gutachten, und befragen ihre Zeugen - nach festen Regeln, in klarer Reihenfolge. Dann urteilt das Gericht. Dieses Modell war das erste für Kritik und überhaupt freie Meinungsäußerung, das in unserem europäischen Rederaum entstand, zur Zeit der Aufklärung, die deshalb auch immer davon sprach, die Meinungen über Kunst (aber auch über Religion, Politik und so weiter) müssten „vor dem Richterstuhl der Vernunft“ vorgetragen werden.

Das Talkshowprinzip kennt den Richterstuhl nicht mehr, da entscheidet keine höhere Instanz, wer recht hat, sondern die schnellste Zunge, der beweglichste Krieger, und das Publikum darf sich mitreißen lassen. Vor Gericht ist nicht erwünscht, dass man einander ins Wort fällt oder einander übertrumpft, in der Show ist es lebensnotwendig.

Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen; die Mediengewohnheiten des Publikums, auch des gebildeten und raffinierten, sind jetzt am Boxkampf, an der Reichweite und der Unmittelbarkeitsillusion geeicht.

Man muss aber auch nicht neuer sein als die Neuheiten, unmittelbarer als die Unmittelbarkeitsillusion, weiter ausgreifend als die Reichweite – sprich, man muss nicht, nur weil der Wettbewerb um immer größere, immer euphorischere Teilhabe am Gelingen oder Scheitern von Kunst und ihrer Kritik viele Regeln abgeschafft hat, die zu hohe Schwellen setzten, zu viel Distanz schufen, um das moderne Spiel zuzulassen, jetzt diese Logik der Überbietungen selbst überbieten und aus der Abschaffung vieler Regeln, Rednerlisten, Zulassungsbedingungen im Bereich des Kunsturteils folgern, man solle überhaupt alle Regeln, Redenerlisten und Zulassungsbedingungen in ihr Gegenteil verkehren – etwa nach dem Muster: Früher war die Kritik unnahbar, jetzt muss man sich von ihr auf die Schulter klopfen lassen, früher war der Kritiker ein entrückter Richter auf dem hohen Berg, jetzt ist er ein Kumpel, den man duzt.

2006 hat Hans Joachim Müller aus Gründen, die man bis ins Einzelne als intellektuelle Reflexe der beschriebenen Öffentlichkeitsveränderung analysieren könnte, im Magazin „art“ das Ende der Kunstkritik ausgerufen. Diese Geste hat, seit die vorhin beschriebene Gleichmacherei und Beliebigkeitsgefahr der (obendrein oft immer noch kostenlosen) Netz-Angebote für Information und Bewertung immer mehr Leute erreichen, eine hohe Plausibilität und hat in den letzten zehn Jahren auch anderen eingeleuchtet – die Popzeitschrift „Spex“ zum Beispiel schaffte im Januar 2010 sogar ihr Kerngeschäft, die Plattenkritik, für eine Weile ab, und experimentierte danach mit Mehrstimmigkeit, Debatte, Plus-Minus-Foren, Kritik als Interview von Kritikern und ähnlichem. Das schlug fehl, weil man von der Kritik auch dann, wenn man ihrem Allwissenheitsanspruch und ihrer institutionalisierten Autorität nicht mehr traut, weil ihre Distanz nur noch künstlich aufrechterhalten werden kann, nicht einfach die Wiederholung der Debatten erwartet, die man im eigenen Freundeskreis sowieso zu Platten, Ausstellungen, Büchern und Filmen führt, und weil Kritik aber eben doch nach wie vor geschätzt wird. Ich sagte: die Distanz ist künstlich, und hat früher so getan, als wäre sie naturgegeben (etwa wie das Königtum oder das Priestertum, das es auch nicht mag, wenn man seine Berechtigung in Frage stellt und die Könige und Priester auffordert, von der Kanzel oder vom Thron zu steigen).

Umkehrungen von Sätzen sind gefährlich, weil nicht immer logisch richtig: Wenn Hans Geburtstag hat, bekommt er Geschenke, aber wenn er Geschenke bekommt, hat er nicht unbedingt Geburtstag. Das gilt auch für den Satz: Wir erwarten von der Kritik nicht mehr, dass sie über uns steht. Den darf man eben nicht so umdrehen, dass er lautet: Wir erwarten deshalb von der Kritik, dass sie uns dauernd sagt, sie unterscheide sich gar nicht von Meinungen, wie alle sie haben, immer, überall.

Den Kritiker nicht einordnen zu können, nicht zu wissen, wer das ist, schwächt heute die Kritik, das stimmt. Aber daraus folgt nicht, dass sie gestärkt wird, wo der Kritiker alle grüßt und duzt.

Ich kenne Nicola Kuhn nicht persönlich, heute Abend sehen und sprechen wir einander zum ersten mal. Aber das hindert mich nicht daran – im Gegenteil - , ihre Kritiken persönlich sehr ernst zu nehmen. Sie diskutiert auf Podien, aber das heißt nicht, dass sie dauernd so schreibt, als plaudere sie nur, und es heißt auch nicht, dass sie nicht weiß, wie ungeschützt, wie weit weg von der unmittelbaren Gemeinschaft man sich sammeln muss, um eine gute Kritik zu schreiben.

Denn absondern muss sich das Urteilen immer – es braucht die Denkpause, das NICHT-Dabeisen, das „Von außen draufgucken“, die Übersicht, auch wenn die Zeiten vorbei sind, wo man glaubte, Übersicht geht nur von oben. Übersicht kann auch heißen, man hat sich durchgearbeitet, man war in der Sache, man tritt aus ihr heraus, um sie zu bewerten, aber das könnte man nicht, wenn man nie hineingegangen wäre, wenn man nur von oben hätte über sie richten wollen.

Als Nicola Kuhn 1991 Redakteurin für Bildende Kunst im Feuilleton des Tagesspiegel wurde, war nicht nur die Wiedervereinigung gerade geschehen. Zwei Gesellschaftssysteme, in denen mal ausgesprochene, mal unausgesprochen vorausgesetzte Regeln das politische, das wirtschaftliche, das soziale und das kulturelle Leben bestimmten, trafen in Berlin neu aufeinander – das eine System, in dem Kultur von oben geregelt wurde, verschwand im anderen, in dem das Dabeisein, das Mitmachen, der von modernen Medien und zunehmend auch Großveranstaltungen für ein Ausstellungsmassenpublikum vermittelte Event-Ansatz mit jedem Jahr höhere Reichweiten und überzeugendere Unmittelbarkeitsinszenierungen eroberten.

„Boom“ ist kein falsches Wort für die Aufbruchsstimmung, die von sich noch nicht wusste, dass ihr Aufbruch ein großer Umbau war und dass beim Umbau auch der eine oder andere Abbruch nötig ist. Die Zeitungslandschaft, in der Nicola Kuhn damals anfing, war eine grundlegend andere als heute.

Die FAZ zum Beispiel hatte Samstags einen Stellenmarkt, der so dick, dass die Zeitung nicht in den Briefkasten passte. Zeitung zu machen, so heißt es in der Rückschau (ich selbst habe es ja nicht mehr erlebt) – hieß, eine Lizenz zum Geld drucken zu haben.
Das ist nun alles weggebrochen, das kommt nicht wieder – aber die Gewalt, mit der die Veränderung sich vollzieht, sollte nicht dazu verführen, zu denken, man befände sich im Krieg und müsse jetzt kapitulieren, weil der Feind – etwa das Netz – stärker ist. Das wäre ein Denkfehler: Man kann zwar zu einem Eroberer sagen, ich gebe dir alle meine Schätze, wenn du mich verschonst. Aber niemand wird verschont, der sagt: ich schaffe alle meine Schätze ab, es sind auch gar keine, es ist alter Plunder.

Soll heißen: Was da stattfindet, ist Konkurrenz mit neuen Formen, die noch größere Reichweiten (das WWW hat ja die größte aller Reichweiten sogar im Namen: „World“), noch mehr Unmittelbarkeit (kaum getippt, schon online, ohne lahme Druckwalze) versprechen, aber Konkurrenz ist kein Eroberungskrieg und kann nicht mit Eroberung enden, sondern nur damit, dass die Unterlegenen entweder ganz verschwinden oder aber die Unentbehrlichkeit dessen, was sie haben, beweisen können – in diesem zweiten Teil wird der Markt dann am Ende neu aufgeteilt und die Leute gehen jeweils da hin, wo es das gibt, was sie wollen. Unmittelbarkeit und Reichweite bei den spontanen Nachrichten und direkten Bekundungen von Euphorie oder Abscheu – bei der Kritik dagegen… ja, was?

Die richtige Antwort auf die Lage ist, wo diese Frage aufkommt, eben nicht: Abschaffen. Sondern: Rausfinden, was das besondere an informierten, begründeten Wertungen ist, gegenüber schnellen und weitreichenden. Man muss also Kriterien haben, mit denen man Bewertungen bewertet. Man muss die Kritik kritisieren lernen. Man muss gute und schlechte Kritik unterscheiden. Das tut man zum Beispiel, indem man die guten auszeichnet.

Der Kritikerpreis der hbs Kulturstiftung will genau das tun. Er wird 2013 erstmalig vergeben. Künftig wird er alle zwei Jahre alternierend mit dem Museumspreis der hbs kulturstiftung ausgelobt.

Um den Kritikerpreis hatten sich 34 Journalisten aus der gesamten Bundesrepublik beworben. Die hbs kulturstiftung war sehr zufrieden mit der Anzahl – immerhin war es das erste Mal. Doch: Die Jury war mit den Artikeln gar nicht zufrieden. Nicht weil die Sachen schlecht geschrieben, schlampig recherchiert, nachlässig begründet gewesen wären. Doch sie waren alle: unkritisch – das heißt: Es ging um Beschreibendes, ums Nachvollziehen, ums Mitschwingen mit der Kunst, nicht ums harte Sortieren nach expliziten Kriterien für gut und schlecht, richtig und falsch, gelungen und missraten.

Und wenn sie doch kritisch waren, dann passte das Format nicht zur Ausschreibung – als ob die Formen selber nicht mehr wüssten, was sie dürfen und sollen, als ob der Satz von Alfred Döblin kein Zuhause in den klassischen Formaten hat, der lautet: „Mir scheint nur die Kritik berechtigt, die aus einem liebenden oder kämpfenden Herzen kommt: schlagen, vernichten oder streicheln, verehren, das ist alles.“

Nicola Kuhn hat uns gerettet. Die Jurysitzung, in der die Entscheidung für sie fiel, war sicherlich die Härteste, die ich je erlebt habe. Nicola Kuhn hat den einzigen Verriss geschrieben, der uns vorlag.

Der Vorspann ihres Textes geht so: „Der Hamburger Bahnhof öffnet sich mit "sehr gut | very good" dem Riesenwerk des Martin Kippenberger – und wagt eine posthume Verbeugung, die jedoch einerseits für die Berliner zu spät kommt, andererseits überstürzt wirkt. Es fehlt Vertiefung und die Erklärung der Querbezüge in diesem an Anspielungen so reichen Werk.“
Ist das ein einladender Vorspann, ist er abweisend, oder ist er zu dialektisch, zu sehr zwar-aber? Man könnte meinen, hier sei vorsichtig formuliert worden, hier sei einem klaren Votum ausgewichen worden, im zeitungstypischen Alltagsstress, Rezensionen am besten schon einen Tag vor der Eröffnung bringen zu müssen. Aber ein Wort ist entscheidend in diesem Vorspann: Vertiefung.

Das meint genau dieses „In die Sache gehen“ als zeitgemäße Alternative zum überholten „über der Sache stehen“, von dem ich oben geredet habe.

Nicola Kuhn kritisiert – eingebettet in eine Beschreibung und Erörterung der AUSSTELLUNG (so wichtig für den PREIS, denn es ist ja eine AUSSTELLUNGSKRITIK), eben die Weigerung, mangelnde Bereitschaft, mangelnde Fähigkeit der Ausstellungsmacher dazu, in die Sache zu ziehen, das Publikum der Sache so auszusetzen, dass es sich hineinarbeitet, also das Unvermögen, die fundierte und nachhaltige Aufarbeitung des Werks von Martin Kippenberger zu leisten. Man wird nicht in Kippenbergers Werk geholt, sondern daran vorbeigeschleust.
Die Deutung des Werks vorzubereiten, indem offengelegt würde, was es in unserer Gegenwart zu suchen hat, ist hier versäumt worden.

Der Artikel beginnt mit einem Aspekt, der fast nebensächlich erscheint. Kann man einer Ausstellung wirklich vorwerfen, dass sie zu spät kommt? Kann man einem Museumsmacher vorwerfen, dass er Martin Kippenberger zeigt, in einer Stadt, in der das noch nie der Fall war?
Nein. Und doch steckt hier schon Nicola Kuhns wichtigstes, schlagendes Argument: Wenn man nach all den Städten in Europa, die Kippengerer gezeigt haben, ihn schließlich umfassend in Berlin präsentiert, und wenn dieses Spät-dran-sein so offensichtlich erklärungsbedürftig ist, weil Kippenberger so wichtig für Berlin war und Berlin für ihn, dann muss diese Erklärung mit zwingender Plausibilität der Schau sozusagen am Gesicht ablesbar sein – dann muss evident sein, warum man das, was man zeigt, so zeigt, wie man es zeigt, dann ist mit verhuschtem Gehudel nichts geleistet.

Wie bei einem guten Kreuzverhör der falsche Zeuge sich in Widersprüche verwickelt, zeigt Nicola Kuhn die Schwäche des Ausstellungskonzepts gerade da, wo es versucht, Autorität zu erzwingen oder zu erschleichen – wenn etwa andere Künstlerprominente aufgefahren werden, um dem Publikum zu suggerieren, der Mann, den diese Leute loben, müsse ja wohl wichtig sein, dann ist das für die Kritikerin ein verdecktes Geständnis: Wer Zeugen braucht, hat selber nichts gesehen, wer mit dem Finger des Berühmten auf einen andern zeigen lässt, traut diesem andern nicht zu, selbst wichtig genug zu sein.

Das Beeindruckendste an dieser Vorgehensweise, nicht fertige Lehrkategorien der Schau überzustülpen, sondern sie so ernst zu nehmen, dass sie da zusammenkracht, wo sie sich eben selbst nicht ernst genug nimmt, ist die Tatsache, dass man das Thema nach Lektüre des Artikels nicht für erledigt halten kann, sondern im Gegenteil erst recht Lust hat, sich damit zu befassen. Neugier wird nicht abgewimmelt, sondern angefacht: Wenn das stimmt, was sie schreibt, nämlich dass man Kippenberger besser hätte zeigen können, und wenn sie nicht NORMATIV entwickelt, wie das hätte geschehen können, sondern rein negativ, als Abdruck des nachweisbaren, von ihr aufgezeigten Scheiterns, dann bekommt man Lust, sich zu fragen: Wie denn? Wie wäre es besser gewesen?
Der beste Verriss ist einer, der dem Publikum sagt: Ich musste das auseinanderhauen, es war falsch zusammengesetzt. In diesem „falsch“ steckt, dass es auch ein „richtig“ gibt.

Wer über den Dingen steht, behauptet, er wüsste schon, wie dieses Richtige aussieht.

Das ist nicht nur langweilig – es führt am Ende zu dicken Bänden voller Beschreibungen richtiger Kunst und richtiger Ausstellungen, die es nirgendwo je gegeben hat außer in Kritikerköpfen – das ist vor allem ein Missverständnis der Funktion von Kritik. Kritik soll nicht die Kunst verbessern. Kritik soll das Publikum dazu ermächtigen, von der Kunst zu verlangen, dass sie nie aufhört, ihre eigene Fähigkeit zu genießen, einem unbestimmbaren Ideal entgegenzustreben.

Kunst will immer mehr als nur sie selbst sein. „Bedeutung“ heißt nichts anderes: Etwas verweist auf mehr als sich selbst. Kritik, die Kunst für ihre Schwächen tadelt, macht ihr im Namen derer, die Kunst brauchen – und das sind eben nicht nur die Künstler und die Kritiker – Mut zu ihren Stärken.

Das Publikum, die Kunst und die Jury sind Nicola Kuhn dafür, dass sie das kann und wirklich tut, zu Dank verpflichtet.